18. August 2015

Friedhof, Würde und Artenschutz


Kathedrale des Leben – Uralte Eiche auf einem Friedhof


Die Gebete waren verklungen. Sie hatten ihn in die Hände des Herrn zurück gegeben. „Von Erde bist Du genommen, zu Erde sollst Du werden.“ Das hatte der Pfarrer gesagt. Einer der Trauergäste dachte: Wenn sie ihn nun wirklich mit seinem Grab dem Herrn überlassen? Wie würde er das Grab gestalten? Was würde seine Natur auf dem Grab wachsen lassen? Ein Grabmal aus Marmor oder eine Platte aus rotem Granit, hochglanzpoliert? Doch das waren unmögliche Gedanken. Er verscheuchte sie. Die Hinterbliebenen würden das Grab schon richtig gestalten. Würdig, wie alle anderen Gräber auch, schon wegen der Leute und wegen der Friedhofsordnung.


  Alter Grabstein als Treppenstufe
 Name auf dem Foto gelöscht

Grabstein als Treppenstufe
Aber die Gedanken wollten nicht weichen. Können Menschen etwas schaffen, was die Würde der Schöpfung übertrifft? Und wie lange bliebe diese Würde dann erhalten? 20 Jahre – die übliche Liegezeit? Aber die kann man ja verlängern. Doch danach? Nachdenklich verließ er den Friedhof. Da fiel sein Blick auf ein paar Stufen zum kleinen Fluss. Alte Grabmale. Man hatte sie zum Wasserholen gelegt. Auf einem stand gemeißelt: Hier ruht in Gott mein lieber Gatte u. Vater. 1908 war er gestorben, vor über hundert Jahren. Doch der Stein hatte unendliche Zeiten tief im Gebirge gelegen. Dann wurde er gebrochen und zum Grabmal. Wie lange müsste er noch als Stufe zum Wasserholen dienen? Und was war mit der Würde?

Die Natur würde das Grab ergrünen lassen
Der solche Gedanken hatte, war Biologe. Biologie ist die Wissenschaft vom Leben. Leben ist mit dem Sterben so eng verknüpft wie Bild und Spiegelbild. Neues kann nur kommen, wenn Altes geht. Das wusste er. Und er wusste auch, was die Natur mit dem frischen Grab machen würde. Sie würde es ergrünen lassen. Erst mit Pionierpflanzen, vielleicht mit Klatschmohn und Kamille oder Löwenzahn, mit Vogelmiere oder Ackerstiefmütterchen, sicher auch mit Gras oder Melde. Auf jeden Fall mit Pflanzen, die nicht mehr Unkräuter genannt werden dürfen, aber trotzdem bekämpft werden. Umsonst zwar, denn tausende ihrer Samenkörner warten im Boden darauf, endlich keimen zu können, wenn sie beim Jäten mit etwas Erde wieder ans Licht kommen. Klatschmohn bleibt sogar hundert Jahre keimfähig.


Ein Eichensämling, ganz unscheinbar zwar, aber könnte leicht 500 Jahre wachsen. Was wäre im Jahre 2515 mit dem Grab? Was mit der Würde?



Bäume und Sträucher würden kommen
Im zweiten Jahr würden mehrjährige Kräuter erscheinen, wie Weidenröschen oder Fingerhut, Beifuß oder Ampfer oder Brennnesseln. Es kämen Sträucher wie Heckenrosen und Holunder. Aber auch Birken, Ahorn oder Linden kämen als Samen angeflogen. Vielleicht würde ein Eichhörnchen oder ein Eichelhäher seinen Wintervorrat an Eicheln und Nüssen vergessen. Dann würden sie keimen und wachsen und die Bäumchen mit den Jahren zu Bäumen werden. Ganz normal wäre diese Sukzession und kein Zweifel: Gott würde Bäume wachsen lassen.

Teuer und tot

Sauber und ordentlich – aber vergewaltigt und tot
Am nächsten Tag besuchte er mit mehr Zeit noch einmal den Friedhof. Doch was er sah und hörte, war schlimm. Die Wege waren asphaltiert – sauber, aber tot. Wo noch nicht, fehlte ebenfalls jedes Kräutlein. Ausgegrast oder weg gespritzt – sauber, aber tot. Alle Gräber in Reih und Glied, aktenfähig, exakt in Stein gefasst oder ganz unter polierten Platten begraben. Hochglänzende, teure Sauberkeit, aber tot. Wo noch nackte Erde war, hatte man sie penibel geharkt oder unter Zierkies versteckt. Ordentlich, aber tot. Zwar standen überall Blumen in Vasen und Schalen, hochgezüchtet und viele Exoten darunter. Fremdlinge, die einem nur leidtun können. Sie leben, um auf dem Friedhof zu sterben. Sehr selten heimische Pflanzen. Alles mit hohem Aufwand an Dünger, Spritzmitteln und Energie produziert. Umweltbelastend, nur weil es uns gefällt und wegen der Leute und der Würde. Als Lebensraum und Nahrung für unsere bedrängte Tierwelt völlig unbrauchbar. Leute schleppen schwere Gießkannen. Daher das Treppchen aus ausgedienten Grabsteinen hinunter zum kleinen Fluss. Von früher zwar, denn jetzt gibt es Wasserhähne. Ein Fortschritt, denn ein Kult des Gießens muss sein, um diese Scheinnatur wenigsten vorübergehend zu erhalten. Ihr trauriges Ende aber will niemand sehen. Er sah es trotzdem: in dem gut versteckten großen Abfallkasten. Dabei blühen Blumen, um Frucht zu tragen. Spüren wir nicht mehr, wie sehr wir die Natur vergewaltigen?


Endstation Abfallkasten

Zwei Birkenkätzchen-Schuppen und vier ultraleichte Flugsamen


Der Dreck der Birke – ein Wunder
Eine ältere Frau sucht ein paar Herbstblättchen aus den Begonien. „Jeden Herbst dieser Dreck“, sagt sie geplagt. Aber früher war es noch schlimmer. Sie deutet auf einen Baumstumpf neben dem Grab. Der Rest einer etwa 40jährigen Birke, man erkennt es noch. Es ist wohl das Grab ihres verunglückten Sohnes. Hier hat die Natur keine Chance, jedenfalls noch nicht, auf Dauer aber schon. Er nickt nur schweigend und wagte nicht zu sagen, was er dachte: Der „Dreck“, das waren die Samen der Birke, winzige Segelflieger, von den Botanikern Flügelnüsse genannt und so leicht, dass zweitausend nur ein gutes Gramm wiegen. Jahr für Jahr produziert sie davon viele Millionen, die der Wind verweht und jeder von ihnen kann eine prächtige neue Birke werden. Der Dreck ist ein Wunder.

Baumkronen - Kathedralen des Lebens
Doch der Friedhof war groß und der neue ging in den alten über. Hatten sie früher alles besser gemacht? Oder fehlte mit den Jahren nur die liebevolle Pflege? Oder die Kraft oder das Geld, um die Natur zu verdrängen? Hier jedenfalls standen Bäume. Ein ausladender Ahorn und eine mächtige Eiche. Ihre Kronen warfen kühle Schatten. Er sah hinauf. Wie­ die Kuppel eines Domes, eine Kathedrale des Lebens, dachte er und fühlte ihre Würde. Diese Würde war anders, nicht penibel und auftrumpfend, sondern mächtig und stark. Es war die Würde der Natur. Noch fühlen wir sie, wie gut.


Harmlose Wespenart in Grableuchte 

 
In den Kronen gurrten Tauben. Unten scharrte eine Amsel im Laub. Ein armdicker Efeustrang schien das alte Grabmal zu stützen. Eine Kreuzspinne saß regungslos in ihrem Radnetz. Daneben breitete sich Immergrün aus. Hummeln besuchten seine blauen Blüten. Sie flogen immer dieselbe Stelle unter dem Efeu an. Er wusste, dort war ihr Nest, aber auch, dass alle einheimischen Hummelarten auf der Roten Liste stehen und manche schon nicht mehr zu finden sind. Aber hier blieben sie unbehelligt. In einer Grableuchte aus Bronze verschwand eine Feldwespe. Er öffnete vorsichtig das Türchen und sah ihre Wabe aus Papier. Ein kleines Meisterwerk. Zwischen den Grabeinfassungen waren junge Ahornbäumchen aufgelaufen und sogar einen Birnenwildling fand er. Die Geschichte des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland fiel ihm ein. Heute wirklich undenkbar? Denken zumindest darf man sie noch.


 
Friedhofsmauer – Paradies für Flechten und Moose

Paradies aus zweiter Hand
Noch weiter hinten kam er an die Friedhofsmauer. Sandstein, stark verwittert, der Kalkmörtel bröckelte aus den Fugen. Das Alter sah man ihr an, aber sie stand und sie lebte. Auf der Mauerkrone kleine Moospolster und Flechten dicht an dicht, Mischwesen aus Pilzen und Algen, die fast nur von Luft und Wasser leben. Mindestens fünf verschiedene Arten zählte er. Eine Eidechse huschte davon, ein Tausendfüßler verschwand unter einer Mauerraute. Das ist ein bescheidener Farn, der sich mit einem Schöllkraut eine Mauerritze teilte. Das Schöllkraut, das mit dem gelben Milchsaft, hatten Ameisen als Samen herangeschleppt. An einer Stelle hing wilder Wein über die Mauer.

Schöllkraut und Mauerrauten (Farn) teilen sich eine Mauerritze

Ganz kurz nur ließ sich ein Tagpfauenauge auf einer Kanadischen Goldrute, die dort aufgelaufen war. Am Anfang war das Tagpfauenauge ein winziges Ei, dann eine Raupe, dann eine Puppe und aus der ist es geschlüpft. Ein Wunder und ein Lehrstück für unseren Hochmut. Niemand kann das nachmachen. Doch das Tagpfauenauge kann nur leben, wenn seine Raupen Brennnesseln als Futter finden. Vielleicht die paar Pflanzen, die man hinter der Abfallkiste übersehen hatte. Dort hatte jemand einen Nistkasten aufgehängt. Die Jungen waren wohl schon ausgeflogen, aber das Flugloch zeigte noch deutliche Spuren. Hier war der Friedhof zu einem Paradies aus zweiter Hand geworden.



Tagpfauenauge auf Kanadischer Goldrute




Für wechselwarme Eidechsen sind sonnige Stellen und polierte Steine auf dem Friedhof ein Paradies. Die Steine heizen sich auf und halten die Wärme wie eine Wärmeplatte.
Drei Eidechsen lauern auf der Grabumrandung aus Marmor, eine weitere liegt rechts unter den Blumen. Sie jagen fette schwärmende Ameisen.




Niemals aufgeben
Er wollte die Mauerraute noch fotografieren. Das sah ein alter Mann, kam näher und meinte: Die Mauer müsste auch mal wieder in Ordnung gebracht werden. Früher habe ich das gemacht. Aber jetzt kann ich nicht mehr so. Was sollte er dazu sagen? Er nickte nur und dachte: Gott sei Dank, er kann nicht mehr so! Entmutigt verließ er den Friedhof. Was konnte er schon ändern? Beim Hinausgehen sah er, dass einige Ahornsamen auf dem Zierkies eines Grabes gelandet waren und dachte: niemals sollte man aufgeben und es immer wieder versuchen. Die Natur gibt ja auch nicht auf. Sie macht uns immer neue Angebote, auch wenn wir sie immer wieder ausschlagen. Aber sie hat den längeren Atem. Es stimmt: Gott würde Bäume wachsen lassen!

Dr. Friedrich Buer
9. August 2015